Beim Thema Digitalisierung müssen wir jetzt den Turbo-Gang einlegen!
Namensartikel 26.10.2021
Im Gastbeitrag stellt Claus Ruhe Madsen seine Vision der "Smile City" vor – das Konzept für Rostock setzt auf offene Dialoge, hohe Transparenz und die Entwicklung digitaler Instrumente.
Seit zwei Jahren bin ich Oberbürgermeister der Hanse- und Universitätsstadt Rostock und damit Chef einer Verwaltung mit 2.500 Beschäftigten. Eine Mehrheit der etwa 210.000 Rostockerinnen und Rostocker hat mich auch deshalb gewählt, weil ich als Unternehmer im Wahlkampf die Defizite bei der Digitalisierung der Verwaltung klar benannt und pragmatische Ansätze gefordert habe. Unsere Erfahrungen während der Corona-Pandemie haben das leider einmal mehr bestätigt.
Die Erkenntnis der vergangenen Monate kann daher nur sein: Beim Thema Digitalisierung müssen wir jetzt den Turbo-Gang einlegen! Denn Deutschland verliert bei der Digitalisierung immer mehr den Anschluss an die anderen großen Industrienationen. Der politische Wille wird stets und überall bekundet. Der gesetzliche Rahmen ist da – auch mit dem Onlinezugangsgesetz. Und die dafür notwendigen Finanzen sind in den allermeisten Fällen nicht das Problem. Doch woran liegt es, dass wir uns als öffentliche Verwaltungen so schwer tun mit echten digitalen Angeboten?
Deregulierung wagen
Wachstum wird in Deutschland durch Gesetze und Regulierungen in einem Maße beschränkt, dass es kaum noch möglich ist, pragmatische Ansätze auch umzusetzen. Über 6,5 Milliarden Euro stehen seit zwei Jahren bundesweit über den "Digitalpakt Schule" zur Verfügung. Doch gerade einmal 13 Prozent dieser Summe wurden bisher auch wirklich abgerufen. Zu aufwändigen Abstimmungsverfahren und der Vergabe-Bürokratie kamen Lieferschwierigkeiten und Leistungsengpässe bei den notwendigen Installationen. Eine Schule, die vollständig mit WLAN ausgestattet ist und bei der alle Schülerinnen und Schüler sowie Pädagoginnen und Pädagogen über die notwendigen Geräte verfügen, hat nach wie vor Seltenheitswert. Deshalb müssen alle Gesetze auf den Prüfstand: Würden wir jedes einzelne Gesetz heute so noch einmal beschließen? Wie viele von den Regelungen brauchen wir heute wirklich noch? Und weisen sie wirklich in die Zukunft?
Prozesse neu denken
Wer immer mit dem Fahrrad unterwegs ist, die oder den irritiert zunächst ein smartes Auto. Wir sind nicht bereit, anzuhalten, vom Fahrrad herunter und rein in das smarte Auto zu steigen. Wenn wir nur schneller treten und einen Gang hochschalten, dann werden wir das Auto schon einholen können. Dieses Bild beschreibt meine Erfahrungen mit Veränderungsprozessen in der Verwaltung: Wir kriegen die Aufgaben von morgen nicht mit der Technik und der Technologie von gestern gelöst. Wir müssen den Mut haben, vom Fahrrad abzusteigen und uns mit der neuen Technologie zu befassen. Klar: Das kostet zunächst Zeit und Kraft. Und es wird nicht gleich alles problemlos laufen. Aber das ist doch völlig normal.
Vertrieb professionell strukturieren
Innovationen entstehen oft im Kleinen und Verborgenen. Sie kämpfen sich ans Licht der Öffentlichkeit, werden hoch gelobt und vertrocknen doch viel zu oft als "Pilotprojekte", deren Erfahrungen und Ergebnisse kaum von anderen genutzt werden. Dabei gibt es in vielen Bundesländern, Landkreisen und Kommunen hoffnungsvolle Projekte, deren Nachahmung durchaus möglich ist. Die globale digitale Welt macht uns dies längst vor: In Webshops stehen Applikationen bereit, die sich so dem Wettbewerb und damit auch faktisch Maßstäbe und Normen setzen. Auch wir brauchen so einen Webshop für die Verwaltungen! Hier ist der Bund in der Pflicht, durch eine Plattform Akzente für die Verwaltungen zu setzen und die Verbreitung von Innovationen zu ermöglichen.
Nur gemeinsam erfolgreich
Nur ein gemeinsamer Ansatz kann zum Erfolg führen. Doch zwingende Voraussetzung für einen modernen Datenaustausch zwischen den Verwaltungen sind die Modernisierungen der zentralen Register wie im Melde-, Personenstands- oder Kraftfahrzeugbereich sowie die Entwicklung und Nutzung einheitlicher XÖV-Standards. Hier wurden die Kommunen lange vergessen und sie erhalten bis heute kaum nennenswerte finanzielle Unterstützungen oder Innovationsanreize. Als Verwaltung einer kreisfreien Stadt haben wir in Mecklenburg-Vorpommern 2018 und 2019 maßgeblich gemeinsam mit der Landesregierung ein Service-Portal entwickelt. Unser Bundesland ist Digitalisierungs-Pilot für das Themenfeld Bauen & Wohnen. Auf der Internetseite des Rathauses Rostock sind aktuell schon über 50 Onlineservices verfügbar – aber noch etwa 250 Onlineservices fehlen.
Die Gründe dafür sind vielfältig: Verwaltungen sind oft viel zu hierarchisch und zu wenig prozessorientiert strukturiert. Fachanwendungen und IT-Systeme haben nicht den notwendigen Reifegrad für umfassende Digitalisierungen. Und Innovationen entstehen viel zu selten aus den Fachbereichen der Verwaltungen heraus, die oft nur in Zuständigkeiten denken und viel zu selten lösungsorientiert arbeiten.
Smile City Rostock
Bei der Digitalisierung ist es wichtig, aus der Perspektive der Einwohnerinnen und Einwohner sowie der Unternehmen die Erwartungen an die Verwaltung abzuleiten. Wir haben als Projektstruktur eine "Fast Lane Smile City Rostock" installiert – für die Planung und Umsetzung eines bürgernahen, zentrierten Ansatzes nach dem skandinavischen Vorbild für eine menschenfreundliche Stadt. Aktuell befinden wir uns in dem Erarbeitungsprozess der Strategie. Dabei müssen wir die Menschen mitnehmen und begeistern, denn unser Ziel ist es, eine nachhaltige, menschenfreundliche und bürgernahe "Smile City-Strategie" zu entwickeln.
Während unseres ersten Stadtfestes "Folkemøde" am 7. und 8. August 2021 haben wir mit den Rostockerinnen und Rostockern die Zukunftsfragen unserer Stadt auf Augenhöhe debattiert. Das Format stammt aus Skandinavien und bedeutet "öffentliches Treffen". Als "Smile Citizens" sind die Rostockerinnen und Rostocker auch unsere wichtigste Säule auf dem Weg zur "Smile City". Denn nur sie können ihre Forderungen und Wünsche an die Verwaltung artikulieren und so die Prioritäten mitbestimmen. Im Rahmen einer "Smile-Governance-Kultur" wollen wir die Services unserer Stadt besser miteinander vernetzen – als Schlüssel für Innovationsfähigkeit. Der Erfolg beruht auf einer starken Ausrichtung am Bürger- und Gemeinwohlinteresse, das heißt offene Dialoge, hohe Transparenz in den Entscheidungsprozessen und Entwicklung geeigneter digitaler Instrumente.
Wir wollen von den skandinavischen Erfahrungen profitieren und mit "Smile Exchange" Kooperationen entwickeln und festigen, die Erfahrungen ermöglichen und teilen helfen. Ziel ist also nicht nur eine "Smile City" mit modernen digitalen Verwaltungsservices, die den Erwartungen der Einwohnerinnen und Einwohner entsprechen. Unser Ziel ist eine "Smile City" mit "Smile Places", die das Verbinden der Lebensbereiche ermöglichen – als intelligent vernetzte und miteinander genutzte, öffentliche Räume mit hoher Aufenthaltsqualität. Für die Menschen und Gäste unserer Stadt wollen wir nicht weniger als viele neue Orte des Glücks schaffen!